Heute habe ich Kerstin zu Gast, zum ersten Shame Off Gespräch. Wie aufregend! Wir sprechen darüber, was im Leben passiert, wenn man tief in sich Zweifel hat und denkt, dass mit einem selbst etwas nicht stimmt. Wenn man das Gefühl hat, „kaputt“ zu sein. Was passiert, wenn man denkt, dass man nicht in der Lage ist, einen Orgasmus zu haben. Wenn man denkt, nicht orgasmusfähig zu sein.
Katja: „Ich sage herzlich Willkommen Kerstin und ich freue mich riesig darauf, mit dir heute dieses Shame Off Gespräch zu führen. Wir sind alle nicht frei von Scham. Es ist ein Weg, sich so weit zu öffnen und darüber zu sprechen, weil die Scham einfach etwas ist, das uns Angst macht. Wir öffnen uns und werden verletzlich. Aber letztlich ist es genau das, was wir so sehr brauchen.“
Kerstin: „Ich finde es wichtig, dieses Thema anzusprechen, um anderen Frauen, denen es genauso geht, eine Möglichkeit zu geben, sich wieder zu erkennen und vielleicht auch einen Weg zu finden.“
Katja: „Erzähl doch einfach kurz deine Geschichte. Womit kommst du hierher?“
Kerstin: „Das Thema, meine Geschichte, die ich heute mitbringe bezieht sich auf fehlende Orgasmen. Das heißt, ich bin heute 48 Jahre alt und bis ich 45 war, hatte ich keinen Orgasmus, weder alleine noch mit einem Mann zusammen. 45 Jahre ist ein ganz schön hohes Alter und bis dahin habe ich gedacht, es geht nicht. Ich bin kaputt.
Wahrscheinlich bin ich die Einzige auf der Welt, der es so geht. Ich habe mit niemandem darüber gesprochen. Nicht mit Freundinnen, nicht mit meiner Familie oder sonst irgendjemandem. Das war einfach so und es war auch in meiner Partnerschaft oder meinen Partnerschaften kein Thema.“
Katja: „Hast du dich mit deinem Mann darüber ausgesprochen?“
Kerstin: „Nein. Er ist sicherlich auch kein Mensch, dem solche Gespräche leicht fallen. Und mir war das tatsächlich damals ganz Recht, weil ich wollte darauf nicht angesprochen werden. Es war auch nicht so, dass ich dachte, wir sprechen darüber und dann gab es eine Lösung dafür. Das alles hatte sich schon so tief in mir verankert. Ich habe versucht, das zu verstecken, indem ich einen Orgasmus vorgespielt habe, jahrelang. Ich war mit meinem Mann 14 Jahre zusammen, irgendwann tat ich das wahrscheinlich auch nicht mehr und Sex hatte dann auch keine Bedeutung mehr.“
Katja: „Hattest du wirklich immer den Gedanken, dass es an dir lag und nie, dass es auch an ihm liegen könnte?“
Kerstin: „Tatsächlich war es schon der Gedanke, dass das an mir lag. Heute würde ich das ganz anders sehen. Dass man beim Thema Sexualität sehr aufeinander eingehen kann, dass es eben wichtig ist, darüber zu sprechen und offen zu sein. Aber damals dachte ich, dass es einfach nicht geht und ich die Fähigkeiten nicht habe. Das heißt, ich habe mich auch selber nie berührt. Ich wollte nicht auch noch einen Beweis dafür bekommen, dass das tatsächlich nicht geht. Ich wollte mich einfach nicht damit beschäftigen. Ich brauchte dafür nicht noch mehr Sicherheit.“
Katja: „Das heißt, bis zu dem Zeitpunkt war ein Orgasmus eigentlich für dich das, was dem Mann vorbehalten ist? Und du warst diejenige, die sich darum gekümmert hat, dass er das bekommt?“
Kerstin: „Tatsächlich habe ich das für mich damals so definiert. Also man macht das so lange, bis der Mann kommt. Ich war zufrieden, wenn er zufrieden war, wenn er gekommen war. Aber letztendlich war das Ende der sexuellen Aktivität immer der Orgasmus des Mannes. Und das finde ich auch so im Nachhinein betrachtet einfach nur krass.“
Katja: „Ja, das ist krass. Vor allen Dingen ist das ein Wahnsinn, wie tief es verankert war in dir. Wie sehr du dich zurückgenommen hast, wie sehr du dich darum gekümmert hast, dass es ihm gut ging und wie sehr du dich selbst damit zurückgenommen hast.“
Kerstin: „Eigentlich ist dein Körper fähig dazu, Sinnlichkeit zu empfangen und zu spüren und zu leben. Ich hab nicht nur in der Sexualität, sondern in einem Großteil meines Lebens meine Bedürfnisse den Bedürfnissen von anderen und insbesondere auch denen von meinem Partner untergeordnet.“
Katja: „Darüber möchte ich gerne mehr sprechen, weil das etwas ist, woran wir erst einmal gar nicht denken. Dass Sex und unsere Sexualität ein Teil unseres gesamten Lebens ist und Auswirkungen darauf hat. Wie war es bei dir? Das heißt, ihr habt euch, als du 45 warst, getrennt? Wer wollte die Trennung? Wie ging die Geschichte weiter?“
Kerstin: „Also die Trennung kam von ihm. Er hat sich in eine andere Frau verliebt, hat sie kennengelernt und innerhalb von zwei Wochen dann die Entscheidung getroffen, sich zu trennen. Das hat mir schon ganz schön den Boden unter den Füßen weggezogen. Das war gar nicht so die Enttäuschung über die Liebe. Ich glaube, wenn ich ehrlich bin, war die auch schon gar nicht mehr da, diese Liebe. Das waren echt harte Wochen, die danach kamen. Ich habe dann einfach angefangen, ehrlich zu mir zu sein. Mir einzugestehen, dass wir schon länger nicht mehr glücklich waren. Das hatte er auch gesagt. Ich dachte mir, ob ich jetzt nicht das Leben leben könnte, das ich mir wünschte.
Die Schwierigkeit war nur, dass ich überhaupt gar keine Ahnung hatte, was ich wirklich wollte. In dem Moment hab ich einfach mich selbst zum ersten Mal in meinem Leben in den Mittelpunkt gestellt. Ich habe mich zur wichtigsten Person erklärt in meinem Leben. Auch vorher war ich schon unzufrieden mit unserer Beziehung. Aber so hatte er mir diese Entscheidung abgenommen. Und ich sollte es als Geschenk sehen.“
Katja: „Genau, das als Geschenk zu sehen. Das war das Entscheidende. Und konntest du das auch relativ schnell als Geschenk für deine Sexualität sehen? Oder hat es länger gedauert?“
Kerstin: „Also gar nicht so lange. Ich habe relativ schnell einen anderen Mann kennengelernt, den ich tatsächlich auch als Geschenk betrachte. Er fragte mich, was mir im Bett gefällt und ich hatte mit 45 Jahren keine Antwort. Erst war es mir unglaublich unangenehm, aber dann habe ich den Schritt gewagt. Ich habe ihm gesagt, dass ich noch nie einen Orgasmus hatte. Das große Geschenk war seine Reaktion.
Er nahm es einfach als Information auf und hat mich erst einmal nur so sein lassen, wie ich war. Ich hab mich ganz anders gesehen und angenommen gefühlt und dadurch konnte ich den Schritt wagen. Das heißt, er hat den Druck rausgenommen und hat gesagt, dass es okay sei. Ich halte dich. Ich bin da. Ich finde dich trotzdem toll und finde dich attraktiv. Es ist mir eigentlich völlig egal. Sei wie du bist, denn du bist toll so wie du bist. Das hatte mir das Gefühl gegeben, eine schöne Frau zu sein.“
Katja: „Er hat den Druck rausgenommen und dich gestärkt. Dich als wundervolle Frau. Dich in deiner Schönheit. Inzwischen weißt du, dass dein Körper das sehr wohl Orgasmen erleben kann. Und natürlich ist jetzt die große Spannung. Wie war dieses wirklich erste Mal? Wie kam es dazu? Wie hat es geklappt? Und wie hat sich das auf einmal angefühlt? Ich will alles dazu wissen.“
Kerstin: „Wir sind auf eine Forschungsreise gegangen. Er ging darauf ein, was ich mir sexuell wünschte. Es gab da auch nicht diese Tabus und ich glaube, das habe ich von meinem Exmann schon so erfahren, dass ich mich da nicht mit allem zeigen konnte und bei gewissen Dingen eine Scham gespürt habe. Aber dadurch konnte ich mich plötzlich öffnen. Ich hatte gar nicht mehr dieses Ziel vor Augen, dass ich einen Orgasmus haben müsse. Also es war schon ein Zufallsergebnis.
Als es passiert ist, war ich tatsächlich alleine. Wir haben geredet und telefoniert und da habe ich mich währenddessen angefasst und dann ist es plötzlich passiert. Und das war wirklich das erste Mal. Aus heutigen Sicht ist es gar nicht mehr denkbar, dass das mal nicht möglich war.
Heute weiß ich, wenn es nicht geht, heißt es nicht, dass es wirklich nicht geht, sondern, dass bis hierher kein Weg dahin gefunden wurde.“
Katja: „Glaubst du eigentlich, dass du dadurch, dass du das so erlebt hast, inzwischen den Orgasmus ganz anders wertschätzen kannst, als eine Frau, die das vielleicht nie so erlebt hat, für die es immer einfach war und ganz natürlich? Oder hast du das manchmal nach dem Orgasmus, dass du danach daran zurückdenkst und weißt, dass das früher nie möglich gewesen wäre und es inzwischen so normal ist?“
Kerstin: „Es ist auf jeden Fall ein anderes Gefühl. Ich denke schon darüber nach, weil es einfach einen sehr, sehr großen Raum in meinem Leben eingenommen hat. Ich habe einen relativ einfachen Organismus im Moment und ich weiß auch, dass es da noch mehr Platz nach oben gibt. Aber es gibt eben auch keine Verbissenheit, dass ich das jetzt haben muss.“
Katja: „Eine letzte Frage habe ich noch an dich. Wenn du so zurück schaust und nachdenkst, was wäre es denn gewesen, was du gerne schon früher gewusst hättest?“
Kerstin: „Also ich glaube, ich hätte es gerne früher gewusst oder ich hätte mich schon gerne früher damit beschäftigt. Auch dass wir alle unterschiedlich aussehen und dass das völlig in Ordnung ist. Eigentlich hätte ich gerne früher gewusst, dass alles gut ist, so wie es ist und ich bin gut so, wie ich bin. Ich darf aufhören, was zu tun, um geliebt zu werden.“
Katja: „Ich danke dir für dieses wunderschöne Schlusswort. Es liegt mir sehr am Herzen, dass wir erkennen, dass wir wertvoll sind, so wie wir sind. Danke, dass du heute den Anfang gemacht hast, beim ersten Shame Off Gespräch und danke dafür, dass wir direkt in ein so wichtiges Thema reinspringen konnten.
Damit verabschiede ich mich für heute und ich wünsche dir einen lustvollen, wunderbaren Tag und denk immer daran, du bist wundervoll!
Shownotes:
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